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Behandeln wir wirklich die Gesunden?

Nachdem ganz langsam in den öffentlichen Diskurs eindringt, warum wir eigentlich so lange Wartezeiten auf Arzttermine und Psychotherapieplätze haben, folgt nun die Wiederholung eines alten Argumentes.

Wieder einmal wird herum gereicht, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sich das Leben angenehm machen wollen und daher gerne überwiegend gesunde Patienten behandeln, und wenn nicht gesunde, dann doch wenigstens solche, die keine Psychotherapie benötigen. Wir halten uns also - so ist die Idee - an ein paar kranken Alibipatienten fest und machen ansonsten Smalltalk.

Gerade wurde über diese These in der Süddeutschen Zeitung nachgedacht.

www.sueddeutsche.de/gesundheit/psychotherapie-depression-anpassungsstoerungen-li.3153397

 

 

Christian Weber bezieht sich dabei auf die jetzt herumgereichte Studie von Marcus Roth und Gisela Steins von der Universität Duisburg-Essen, die einen Aufsatz in der Fachzeitschrift Psychologische Rundschau, Überschrift: „Anmerkungen zur Problematik fehlender Psychotherapieplätze“ veröffentlicht haben, wobei die Autoren gerade in ihrer Schlussbemerkung betonen, sie würden nicht davon ausgehen, dass nur leichte Fälle behandelt würden. Stattdessen wollen die Autoren offenbar auf einen durchaus wichtigen Punkt aufmerksam machen, die Frage einer Pathologisierungstendenz in der Bevölkerung, bei Patientinnen und Patienten sowie bei Therapeutinnen und Therapeuten. Sie schreiben: »Die bisherigen Ausführungen pointiert zusammenfassend, lässt sich jedoch nicht gänzlich ausschließen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Patient_innen sein subjektives Leiden als psychische Störung missdeutet, daher eine psychotherapeutische Behandlung aufsucht und dabei möglicherweise auf eine/n Behandler_in trifft, der / die mit der „Anpassungsstörung“ hierfür eine „passende“ Diagnose zur Hand hat und so diese Pathologisierungstendenz unterstützt«.

Dabei wird die Diagnose »Anpassungsstörung« als Verlegenheitsdiagnose betrachtet, auf die man zurück greife, wenn sonst keine ICD-Diagnose passe. Leider vergreift sich der Kollege Andreas Maercker vom Psychologischen Institut der Universität Zürich  dann deutlich in der Wortwahl, indem er von »Schmuddelkind-Diagnose« und »fast ein Mülleimer« spricht. Allerdings weist Maercker auch darauf hin, dass Anpassungsstörungen nicht immer harmlos seien und sich die Suizide in Deutschland seit 1980 fast halbiert hätten. Nicht ganz unwahrscheinlich, dass das mit der besseren psychotherapeutischen Versorgung und der Aufklärung über psychische Erkrankungen zu tun hat.

Also was nun?

Dazu ein paar Anmerkungen:

Das ICD-10 ist eine überwiegend deskriptive Diagnoseklassifikation, in der Struktur angelehnt an die Diagnosekriterien somatischer Erkrankungen. Nicht jede psychische Beeinträchtigung lässt sich durch dieses System abbilden, schon gar nicht der dynamische Prozess einer Erkrankung. Mit dem neuen ICD-11 soll nun alles besser werden.

In meiner Praxis ist die »Anpassungsstörung« die von mir am seltensten gestellte Diagnose.

Die Autoren berufen sich auf eine Studie des RKI, derzufolge die Prävalenz psychischer Erkrankungen bei 27,8 % gelegen habe. Diese Prävalenz sei stabil, woraus die Autoren schließen, »Die Strategie des „Mehr desselben“ hat offensichtlich in den letzten Jahren nicht zu einer Verbesserung der Lage geführt«.

Das führt die Autoren zu folgender These: »Vielleicht, so könnte man, basierend auf den zuvor dargestellten Befunden vorsichtig vermuten, reduziert sich die Prävalenz psychischer Störungen auch deshalb nicht, weil sich Psychotherapeut_innen, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil um Patient_innen kümmern, die keine störungsrelevante Symptomatik aufweisen«.

 

Jetzt heißt es dann doch wieder, wir würden Menschen behandeln, die nicht krank sind. Das ist eine ziemliche Unterstellung.

Erst nein, dann doch. Das ist aus der Abteilung: »Man sagt ja nix; man redt´ ja bloß....«

 

Warum sollten wir Menschen therapieren, die keine Hilfe benötigen?

Hat diese Frage schon mal jemand an die Hausärzte gerichtet?

Vorgespräche sind meines Wissens dazu da, eine Therapie-Indikation zu überprüfen, stellen aber bereits einen »psychotherapeutischen Kontakt« dar. Ohne Frage trägt die Ratgeberkultur der Nichtprofessionellen zu einer Selbstpathologisierungstendenz bei, aber es ist ja gerade unsere Aufgabe, dies mit den Menschen in den Vorgesprächen zu klären. Im Übrigen gibt es sehr häufig auch den umgekehrten Fall: Menschen, die dringen psychotherapeutische Hilfe bräuchten, nehmen diese gerade nicht in Anspruch.

Die These, wir würden die Gesunden behandeln und daher zu wenig Therapieplätze haben, halte ich für sehr gefährlich.

Zur stagnierenden Prävalenz: Hat mal jemand darüber nachgedacht, dass Menschen, die aus Krisengebieten traumatisiert zu uns kommen, ihre Diagnosen mit hier her bringen? Und dass diese Menschen Kinder haben, die ebenfalls unter den Erkrankungen ihrer Eltern leiden?

Es ist sicher eine berechtige Frage, worin eine Prävention psychischer Erkrankungen bestehen kann. Aber darüber kann man nur wirklich nachdenken, wenn man für möglich hält, dass psychische Erkrankungen nicht einfach »genetisch« sind und »Reste« aus der Zeit, als wir in Höhlen lebten und es mit den vielzitierten Säbelzahntigern zu tun hatten. Sie fallen auch nicht einfach vom Himmel.  Sondern psychische Erkrankungen sind Ergebnisse der dysfunktionalen Interaktion zwischen Individuum und Umwelt und gescheiterten inneren und äußeren Bewältigungsstrategien.

Vermutlich bringe jeden Zeit »ihre« psychischen Erkrankungen hervor, weil in jeder Zeit Menschen mit den gegebenen Bedingungen besser oder schlechter zurecht kommen, mehr oder weniger Glück haben.

Wenn wir die Prävalenzen verbessern wollen, dann brauchen wir mehr professionelle Aufklärung, aber auch ein dynamisches Verständnis von psychischen Erkrankungen und die Bereitschaft an den individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen etwas zu verändern. Das »Labeln«, um die Dinge von sich fern zu halten, scheint mir da eher nicht hilfreich zu sein.