Nach Verbreitung der Berichterstattung über die Plagiate in dem neuen Buch von Stefanie Stahl »Wer wir sind« bestätigte zunächst auch Kerstin Herrnkind für den stern (»Abgekupfert?« online am 04.09.2023), die ungekennzeichnete und wörtliche Übernahme von Passagen aus dem Buch von Klaus Grawe (»Neuropsychotherapie) durch Stefanie Stahl. Allerdings scheint sie dabei im Widerspruch zu der Autorin zu stehen. Herrnkind versucht die Vorwürfe dadurch zu entschärfen, dass sie Stahls Buch als populärwissenschaftlich einordnet, während Stefanie Stahl sich ja explizit als wissenschaftliche Autorin versteht: »Ich stehe nicht für Selbstoptimierung, sondern für wissenschaftliche Psychologie«, sagt sie im Gespräch mit Stephan Seiler (stern-online vom 01.01.2023). Aber ob nun populärwissenschaftlich oder wissenschaftlich, Abschreiben, die Ausgabe fremder Gedanken als die eigenen, bleibt eine absichtliche Täuschung der Leserinnen und Leser. Entsprechend scheint dem stern, für den Stahl als Kolumnistin tätig ist, die Mitteilung wichtig zu sein, dass »bei einer Stichprobe der letzten Kolumnen durch eine Plagiatssoftware« keine Plagiate angezeigt würden, als müsse man darüber nun besonders froh sein. Ferner scheint der Satz, es würden der Autorin 34 Plagiatsstellen in einem Buch, das 384 Seiten »dick« sei, nahezulegen, es gäbe es eine Art Verdünnungseffekt: je dicker das Buch, desto mehr Plagiate scheinen entschuldbar? 34 mal Abschreiben von den unterschiedlichsten Quellen scheint mir dagegen sehr viel und unlauter zu sein.
Ein »Gespräch« zwischen mir und dem stern hat es im Übrigen nicht gegeben, lediglich einen Anruf von Kerstin Herrnkind bei mir, in dem sie mich sehr eindringlich darum bat, das Gutachten zunächst nur an den stern zu schicken. Man wolle der Sache gerne selber nachgehen. Dies wollte ich aufgrund eines für mich offensichtlich bestehenden Interessenkonfliktes nicht. Daher sind die Angaben zu und die Vermutungen über meine Person in dem genannten stern-Artikel denn auch frei erfunden.
Es ist der Süddeutschen Zeitung und Felix Stephan zu verdanken, dass in dieser Form in Deutschland zum ersten Mal kritisch über die Autorin berichtet und das umfangreiche Plagiieren öffentlich wurde.
Bisher war eine kritische Berichterstattung - bis auf wenige Ausnahmen - kaum zu finden. Zwei dieser Ausnahmen sind die Artikel von Birgit Schmid in der Neuen Züricher Zeitung (nzz vom 04.10.2022) und Rebecca Wyss (blick vom 07.01.2023), beides Artikel aus Schweizer Medien. Auf deutscher Seite hatte sich Thomas Lindemann (faz.net am 05.08.2019) einmal vorsichtig kritisch geäußert.
Womöglich überrascht einen die bisherige Zurückhaltung nicht mehr so sehr, wenn man sich klar macht, dass doch etliche Medien von der Popularität Stahls zu profitieren hoffen. Bei zeit-online ist sie beispielsweise regelmäßig als Interviewpartnerin in der Serie »Hilfe« zu Gast, die welt wartet mit einer »exklusiven Kolumne der Psychologin« auf: https://www.welt.de/themen/stefanie-stahl/ (10.09.2023), der stern, wie inzwischen hinreichend bekannt, ohnehin. Da wundert es denn eher wenig, dass die entsprechenden Medien wenig Interesse daran haben, die zum Teil extrem vereinfachten, plakativen Aussagen der Autorin kritisch zu hinterfragen oder gar dazu Stellung zu nehmen, dass »Deutschlands Psychologin Nr. 1« von anderen Autorinnen und Autoren abschreibt.
Und Stefanie Stahl selber? Auch sie schweigt und geht zur Tagesordnung über. So ist derzeit noch für November eine Lesung in München im Rahmen des Literaturfestes München im Internet angekündigt, eine Veranstaltung, für die immerhin der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, München, firmiert. Dort sollen ihre Bücher »Das Kind in dir muss Heimat finden« und »Wer wir sind« im Mittelpunkt stehen, letzteres ein Buch mit einer Fülle von Gedanken, die von anderen Autorinnen und Autoren übernommen worden sind, wie wir jetzt wissen.
Durch ihre Anwälte hat Stefanie Stahl - wie die sz berichtetete (sz 02./03. September) - nach Bekanntwerden der Plagiate ausrichten lassen, das Klaus-Grawe-Insitut habe die Nutzung der Textstellen genehmigt, eine Aussage, die die sz als Unwahrheit enttarnen konnte. Aber warum eine solche Unwahrheit, und eine überflüssige dazu? Man braucht keine Genehmigung, wenn man aus veröffentlichten Werken zitiert, eben, wenn zitiert, also kenntlich gemacht wird, von wem, aus welchem der Werke, aus welcher Auflage usw. man denn das Zitat übernommen hat. Diese Unwahrheit würde eher wieder zur Idee des Urheberrechtsverstoßes passen, dessen Möglichkeit bizarrerweise erst die Anwälte von Stefanie Stahl selbst aufgeworfen haben. In der Psychoanalyse würden wir hier von einer klassischen »Verneinung« sprechen, ein Nein zu einer vermeintlichen Frage, die niemand (von außen) gestellt hat (Markantes Beispiel: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen!«). Warum also die Befürchtung des Vorwurfes eines Urheberrechtsverstoßes?
Nun, in Stahls Bestseller »Das Kind in dir muss Heimat finden« spricht sie ab S. 35 bis S. 42 von den »vier psychischen Grundbedürfnissen«. Auf S. 31 schreibt sie, der bekannte Psychotherapieforscher Klaus Grawe habe diese vier psychischen Grundbedürfnisse und ihre Bedeutung für den Menschen untersucht. Auf seine Erkentnisse würde sie sich in diesem Buch beziehen (Stahl 2015, S. 31). Das ist dann auch das einzige Mal, dass der Autor, der diese Grundbedürfnisse in seinem Buch »Neuropsychotherapie« (2004) von S. 183 an auf über 100 Seiten erläutert (Grawe 2004) und auf S. 186 so explizit untereinander stellt, von Stahl erwähnt wird. Diese Bemerkung wirkt wie ein Feigenblatt, denn fortan wird Stahl diese »vier psychischen Grundbedürfnisse« zum Zentrum ihrer »Theorie« machen. Interessanterweise bezieht sich Grawe in Bezug auf diese Grundbedürfnisse selbst auf einen anderen Autor: Seymour Epstein und seine »Cognitive-Experimental Self-Theory (CEST)« (Grawe 2004, S. 185). Ob das nun ein Urhebrrechtsverstoß ist oder nicht, das mögen die Juristen klären, sollte sich ein Kläger oder eine Klägerin finden.
Ich frage mich eher, wie es sein kann, dass hier eine Autorin, die von sich behauptet »für wissenschaftliche Psychologie« zu stehen (sz vom 02./03. September 2023) so schamlos gegen wissenschaftliche Prinzipien verstoßen kann und dennoch eher geschützt zu werden scheint. Was ist der Grund? Vielleicht ist es ganz einfach das Geld, denn von Kolumnen einer Bestsellerautorin verspricht man sich womöglich doch etwas? Oder ist es die Peinlichkeit, jahrelang so unkritisch gewesen zu sein?
Die Frage wird sein, was jetzt? Die Anwälte der Autorin haben dazu eine interessante Aussage getätigt: Man wolle die betreffenden Passagen in der nächsten Ausgabe des Buches »noch deutlicher« kennzeichnen (sz 02./03. September 2023). Das klingt wie ein Hohn, angesichts der Tatsache, dass diese Stellen gar nicht gekennzeichnet sind. Und dann: Die nächste Auflage des Buches? Verlage anderer Autorinnen und Autoren haben Bücher mit Plagiaten vom Markt genommen; das hat man hier bisher augenscheinlich nicht vor.
Wie kommt man also zu einer neuen Auflage? Man könnte zum Beispiel dafür sorgen, dass möglichst viele Bücher gekauft werden (das tut auch der »Spiegel-Besteller-Liste« gut) und dann - wegen der großen Nachfrage - schleunigst eine zweite Auflage auf den Markt bringen. Seit Hartmut Rosa wissen wir ja, dass »gekauft« bei Weitem nicht gleich »gelesen« bedeutet. Die Arbeit des Belegens und Zitierens, die dafür notwendig wäre, wurde dann ja bereits gemacht - von Herrn Dr. Weber und mir.
Man darf gespannt sein, ob es so kommt.
10. September 2023