In der NDR-Talkshow sagt sie gar, es sei das anspruchsvollste Buch, das sie je geschrieben habe.
An anderer Stelle:
»Mein neues Buch ist wirklich richtig gut. So etwas gab es vorher nicht«
Auch so ein Satz bleibt unwidersprochen - bisher.
Man kann nur hoffen, dass es solche Bücher vorher nicht gab, denn Frau Stahl hat sich - wie jetzt belegt ist - bei anderen Autor:innen und Quellen in erheblichem Maße bedient, ohne diese Quellen anzugeben, und hat Inhalte oft als ihre eigenen ausgegeben.
Die von ihr in Talkshows und Büchern kolportierten »vier psychischen Grundbedürfnisse«, mit denen so ziemlich alle psychischen Probleme erklärbar sein sollen, stehen schon in ihrem ersten großen Bestseller »Das Kind in dir muss Heimat finden« und nun auch wieder in ihrem neuen Buch »Wer wir sind«. Hier erwähnt sie, dass Klaus Grawe diese vier Grundbedürfnisse identifiziert habe (Stahl 2022, S. 47), nennt aber keine Textquelle und verwendet diese Begriffe später als Teil ihrer »Theorie«, die aus vielen Behauptungen besteht, z.B. »Es geht immer um Kontrolle« (S. 50) oder »Der Bauplan der Psyche richtet sich nach den Interessen der Evolution« (Stahl 2022, S. 17).
Diese vier psychischen Grundbedürfnisse stehen in dem 2004 erschienenen Buch »Neuropsychotherapie« von Klaus Grawe auf S. 186, der - im Gegensatz zu Stahl - fairerweise schreibt, dass Seymour Epstein in seinen Arbeiten diese vier Grundbedürfnisse unterscheide (Grawe 2004, S. 185).
Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich als Mitglied der »psychoanalytischen Kaste« - wie Stahl die Psychoanalytiker:innen im Interview mit Bärbel Schäfer auf der Frankfurter Buchmesse nennt - mit den Inhalten dieses Buches zu befassen und das werde ich an dieser Stelle auch noch tun. Dabei bin ich aber über reichlich Stellen gestolpert, die bei Klaus Grawe stehen und dann bei Frau Stahl zum Teil wörtlich, zum Teil paraphrasiert (was aus meiner Sicht auch noch einmal eine besondere Absicht dokumentiert) wieder auftauchen.
Daher habe ich mich an den bekannten Plagiatsforscher Stefan Weber gewandt und ein Gutachten in Auftrag gegeben, weil Herr Weber ein anerkannter Fachmann dafür ist. Selbst er war skeptisch, wie er mir später mitteilte, und ich bin froh, dass er es war. Denn eine gewisse Skepsis ist es, die man für wirklich wissenschaftliches Arbeiten braucht.
Am Ende waren wir beide überrascht, in welchem Ausmaß Stefanie Stahl in ihrem neuen Buch plagiiert hat. Ich bin sehr froh, dass ein anerkannter Wissenschaftler mit großer Expertise sich der Angelegenheit mit angenommen hat, denn es war - und auch das gehört zum Phänomen Stahl - ausgesprochen schwer, mit der Kritik, die sich zudem auch auf die unterkomplexen Inhalte, die extremen Vereinfachungen und das höchst zweifelhafte biologistische Konzept bezieht, an die Öffentlichkeit zu kommen. Ein Stern-Redakteur ließ drei (!) sehr langfristig angelegte Termine kurz vorher (zweimal einen Tag vorher) platzen (Stefanie Stahl hat beim Stern eine Kolumne), andere bekannte Zeitschriften reagierten gar nicht erst. Erst durch das vorliegende gründliche und aussagekräftige Gutachten von Dr. Stefan Weber entstand dann ein gewisses Interesse, so dass es uns schließlich gelang, den Kontakt zu Felix Stephan von der Süddeutschen Zeitung herzustellen, der in einer - wie ich finde - hervorragenden und professionellen Recherchearbeit auf weitere Abgründe stieß. Plötzlich tauchten Anwälte auf, wurde behauptet, man sei vom Klaus-Grawe-Institut und anderen autorisiert, diese Stellen zu verwenden (selbst wenn es so gewesen wäre, es hätte nichts am Plagiieren geändert und daran, dass hier eben überhaupt nicht wissenschaftlich gearbeitet wurde).
Aber auch diese Behauptungen stimmen augenscheinlich nicht, denn sie wurden von keiner/keinem der Genannten bestätigt. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Finten benutzt werden, wenn Entlarvung droht.
Die Anwälte ließen verlauten, es liege kein »Urheberrechtsverstoß« vor (SZ online vom 01.09.2023), was dem Abwehrmechanismus der klassischen Verneinung ähnelt, denn das hatten wir nie behauptet! Auf diese Weise aber wurde gewissermaßen »aus Versehen« das Plagiieren eingeräumt und eine weitere interessante Frage aufgeworfen, nämlich die, ob denn Urheberrechtsverstöße vorlägen. Das mögen dann andere klären.
Für die Medien ist - jetzt - vordringlich das ausgedehnte Plagiieren interessant.
Für mich und meine Arbeit als Ärztin, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin aber ist die wissenschaftliche und die psychotherapeutische Redlichkeit mindestens ebenso elementar. Da versuchen wir Kandidat:innen und Student:innen beizubringen, was wissenschaftliches Arbeiten ist, während solche Bücher in vielen Medien als »wissenschaftlich« dargestellt werden dürfen, in der sog. Spiegel-Liste läuft »Wer wir sind« unter »Sachbuch«(!).
Aber an diesem Buch finde ich nichts wissenschaftlich, weder das handwerkliche Arbeiten mit Zitaten und Belegen, noch die inhaltlichen Konzepte. Es arbeitet vorwiegend mit Behauptungen und persönlichen Eigentheorien.
Könnte uns das nicht auch egal sein?
Ich denke, das darf es gerade nicht. Womöglich schweigen professionelle, seriöse Psychoanalytiker:innen (die »Kaste«) und Psychotherapeut:innen schon viel zu lange. Denn diese Bücher werden von vielen Menschen gelesen, von Patient:innen und Journalist:innen und sorgen so für die Verbreitung einer unterkomplexen, trivialen und daher auch in Teilen gefährlichen Vorstellung von Psychotherapie.
Stefanie Stahl dokumentiert - aus meiner Sicht - einen Rückfall in die Einpersonen-Psychologie. Dass es psychische Grundbedürfnisse gibt, ist weder die Erfindung von Klaus Grawe und schon gar nicht die von Stefanie Stahl. In den psychodynamischen Verfahren wissen wir schon lange, dass vor allem die Konflikthaftigkeit von Bedürfnissen, die dazugehörige Ambivalenz und vieles mehr zu Problemen führt. Wenn Stefanie Stahl behauptet, »acht Milliarden Menschen ticken gleich« (NDR-Talkshow) und wir seien »weltweit« alle »psychisch gleich« aufgebaut, kann man das wohl nur als reißerisch bezeichnen. Auch solche Sätze finde ich unredlich. Genauso unredlich finde ich es, wenn sich Frau Stahl – ihres Zeichens Verhaltenstherapeutin - aus psychoanalytischen Konzepten und Theorien bedient wie aus einem Steinbruch. Hier ein Stück, da ein Stück und diese dann - offenbar selbst nicht verstehend - irgendwo einbaut. Da wird dann ein »Introjekt« zu einem Fremdkörper, »der sich im Gehirn eingenistet hat« (Stahl 20222, S. 43). Das würde ich dann doch als eher ziemlich konkretistisch bezeichnen.
Aber dieses soll vorerst nur ein Beispiel für die Arbeitsweise von Stefanie Stahl sein.
Mit am schlimmsten finde ich, dass sie durch die Art ihrer Baukasten-»Theorie« die therapeutische Beziehung so ziemlich wegzukürzen scheint. Dazu passt, dass sie ihre Patienten nur noch einmal sieht (nicht einmal in der Woche, sondern überhaupt nur einmal…) (Stahl 2022, S. 295). Dann nämlich - so Stahl - hätten die Patient:innen einen »roten Faden«. Man könne sich aber auch ihren Podcast anhören….
All das wirkt, als sei Psychotherapie »quadratisch, praktisch, gut«! (Slogan einer berühmten Schokoladenmarke!), ein Gespräch, ein roter Faden. Das müsste doch Wasser auf die Mühlen all derer sein, die behaupten, »das« dauere ohnehin alles viel zu lange.
Gestern hatte ich eine Supervision mit einer sehr erfahrenen Kinder- und Jugendpsychoanalytikerin. Sie hat über Jahre ein schwerstmisshandeltes Kind behandelt und so Vieles ausgehalten, verdaut, verstanden, zur Sprache gebracht, Symbole und Wörter gefunden. Sie hatte jetzt ihre letzte Stunde mit dem Kind, das beim Abschied traurig war, seiner Analytikerin ein Bild mitbrachte und sagte: Es ist traurig, aber wir haben doch eine Beziehung!
Ich habe mir vorgenommen, das Wissenschaftliche, das Wertvolle an unserer Profession zu verteidigen.
02. September 2023