So schreibt Stefanie Stahl auf S. 35 in ihrem Buch Wer wir sind:
»Allein, was wir in den ersten zwei Lebensjahren erfahren, kann im Erwachsenenalter nicht mehr gelöscht werden. Während der ersten zwei Lebensjahre bildet sich unser Urvertrauen oder auch unser Urmisstrauen in uns selbst und in die Welt aus. Diese Prägung ist irreversibel. Allerdings kann man als Erwachsener durch Selbstreflexion und die Aneignung neuer innerer Einstellungen und das Erlernen neuer Verhaltensweisen einen möglichen “Programmierschaden“ ganz gut kompensieren« (Stahl 2022, S. 35/36).
Diese These vertritt sie dann auch in verschiedenen Medien, die sie zu folgenschweren Behauptungen führt:
»Wenn Kinder zu früh in die Kita kommen und das Sicherheitserleben nicht genug ausgeprägt ist, ist es später irreversibel« (Stefanie Stahl im Interview mit Volker Tiez, FOCUS-online vom 10.08.2022).
Und etwas später:
»Nur mit Mama und Papa spurt sich das Gehirn ein und das Kind bekommt Sicherheit. Wenn es aber zu früh und zu lange in der Kita ist, entsteht dieser Kreislauf nicht, sondern es entwickelt sich ein Hardware-Schaden« (ebd.).
Nun ist gerade die Kita-Aussage ohne Frage auch ein brisantes Politikum. Daher macht es Sinn, sich diese Behauptungen, die von Stefanie Stahl an keiner Stelle belegt werden, einmal genauer anzugucken.
Gibt es »Prägungen« beim Menschen und sind solche, die in den ersten zwei Jahren geschehen, tatsächlich irreversibel?
Vielen dürfte der Begriff der »Prägung« durch Konrad Lorenz und seine Graugans »Martina« bekannt sein, es handelt sich also um einen Begriff aus der Verhaltensbiologie.
Was sagen echte Expertinnen und Experten dieses Gebietes dazu?
Prägung heißt, »dass während eines genetisch festgelegten Zeitabschnitts (sensible Phase) […] bestimmte Reize der Umwelt dauerhaft gelernt« werden (Krettenauer 2014, S. 6). Solche Prägungen, so Krettenauer weiter, seien bei Tieren vielfach nachgewiesen worden.
Allerdings:
»Die unvermittelte Anwendung des Konzepts der Prägung auf menschliche Entwicklung ist jedoch fraglich […]« (ebd.).
Wir halten also fest: Für das Vorliegen von »Prägungen«, wie sie aus dem Tierreich bekannt sind, liegen bisher keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor!
Damit ergibt sich bereits die Kritik am zweiten Punkt, den der Irreversibilität:
So schreibt Krettenauer in seinem Beitrag:
[…] dennoch wäre es fehlgeleitet, die Bindungsentwicklung [beim Menschen; DP] als irreversiblen Prozess analog zum Vorgang der Prägung zu begreifen. Bindungsmuster bleiben plastisch und sind im Verlauf der Entwicklung veränderbar« (ebd.).
Daraus, so Krettenauer, lasse sich nun wiederum nicht folgern, dass Bindung in allen Lebensphasen gleichermaßen formbar sei, allerdings solle ein biologisch bedingtes Zeitfenster erhöhter Lernbereitschaft nicht deterministisch missverstanden werden.
Und er formuliert es noch deutlicher:
»Lernprozesse, die in sensiblen Phasen stattfinden, beeinflussen die weitere Entwicklung, sie determinieren diese aber nicht« (ebd.).
Das menschliche Gehirn verfügt über die Besonderheit der »sekundären Altrizialität«, die Fähigkeit auch noch lange nach der Geburt seines »Eigentümers«, weiter zu wachsen.
(s. a. https://www.mpg.de/489245/pressemitteilung20040914)
Insgesamt bedeutet dies, dass es in unserer Entwicklung durchaus vulnerable Phasen gibt, also solche, in denen wir besonders schnell, besonders viel dazulernen können, aber in denen wir auch - im Falle schlechter Erfahrungen oder Fehlen von Erfahrungen - besonders viele »Defizite« anhäufen können, die es uns bei unserem weiteren Werdegang schwerer machen.
Zwar gibt es sensible Phasen in der kindlichen Hirnentwicklung und in dieser Zeit haben insbesondere emotionale Erfahrungen hohe Bedeutung für das weitere Leben, sie sind aber keinesfalls für immer und ewig so »eingeprägt«. Diese Vorstellung scheint aber Stefanie Stahl zu haben, weshalb sie auch für die Zukunft phantasiert, es könnten »psychologische Störungen« irgendwann »direkt in den Köpfen der Betroffenen „verlötet“« werden (Stahl 2022, S. 13).
Für mich ist dieses Menschenbild, bestehend aus »Programmierschäden«, »Hardwareschäden«, »einspuren« »Prägungen« und »verlöten« eindimensional, mechanistisch und darüber hinaus erschreckend. Es verleitet dazu, ein wesentliches Element menschlichen Lebens herauszukürzen: das der Beziehungen.
Dazu passt, dass S. Stahl an ihre Patientinnen und Patienten (als sie überhaupt noch Patienten behandelt hat) nur noch einmalige Termine vergeben hat (Stahl 2022, S. 295); sie empfiehlt aber ihren Podcast (ebd.). Deutlicher kann man die Abkehr von Psychotherapie im eigentlichen Sinne, die im Wesentlichen auf Beziehungsarbeit beruht, kaum machen.
Beziehungen sind das wesentliche Agens unserer Entwicklung als zoon politikon (Aristoteles) und daher für die differenzierte Betrachtung beispielsweise auch der »Kita-Frage« elementar. Denn wie diese sind viele Fragen keineswegs eindimensional oder dichotom zu beantworten, wie Stahl behauptet.
25. September 2023
Literatur:
Krettenauer, T. (2014): Der Entwicklungsbegriff in der Psychologie. In: Ahnert, L. (Hg.): Theorien in der Entwicklungspsychologie. (Springer-Verlag) Berlin Heidelberg, S. 6 - 21.