So lässt sie nun über ihren Pressesprecher Malte Weber im »Trierischen Volksfreund« ausrichten, Grawe werde an »zig Stellen« in dem Buch Wer wir sind genannt. Aber die heutigen E-books ermöglichen eine schnelle Überprüfung und Klärung: Grawe wird im Fließtext gerade siebenmal genannt (Inhalte aus seinem Buch werden dagegen wesentlich häufiger wiedergegeben). Das ist weit entfernt von »zig«. Also warum wieder eine solche Falschbehauptung?
Und Stefanie Stahl selber wird mit dem bemerkenswerten Satz zitiert:
»Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich ganz bewusst auf einen wissenschaftlichen Stil des Zitierens« (Volkfreund vom 15.09.2023, online).
Das möchte nahelegen, jene Autorinnen und Autoren, die sich an die Regeln halten, seien nicht oder nur schwer lesbar. Und es belegt zudem, dass Stefanie Stahl das Zitieren ganz bewusst unterlässt und nicht aus einer Nachlässigkeit heraus gehandelt hat.
Felix Stephan weist in der Süddeutschen Zeitung (SZ v. 16./17. September 2023) zu Recht darauf hin, dass Stefanie Stahl auf die eigentlichen Vorwürfe nicht eingeht und damit die gewählte Strategie im Umgang mit dem aufgedeckten Vertrauensbruch erkennbar wird.
In meinen Worten: So tun, als sei nichts geschehen, und hoffen, dass man sich bald nicht mehr daran erinnert.
Was bisher in der Causa Stahl allerdings noch wenig beleuchtet wurde, sind die aus wissenschaftlicher Sicht ausgesprochen frag- und kritikwürdigen Inhalte, die sich - gewissermaßen hinter den Plagiaten - und dem Schreibstil der Autorin verbergen.
Wenn man zum Beispiel auf das Zitieren verzichtet, dann ergeben sich zweierlei »Vorteile« oder Probleme - je nach Sichtweise:
- Zum einen macht man nicht kenntlich, welche Ideen und Inhalte keine eigenen, sondern »fremde Gedanken« sind (Süddeutsche Zeitung vom 02./03. September 2023).
- Zum anderen kann man schlicht Behauptungen aufstellen, die man nicht belegen muss.
Und auch letzteren »Vorteil« nimmt Stefanie Stahl in ihrem Buch Wer wird sind ausgiebig für sich in Anspruch. Aus meiner Sicht handelt es sich dabei um ein sehr gravierendes Problem, weil auf diese Weise Inhalte in die Welt gesetzt werden, die - nicht zuletzt aufgrund ausbleibender Kritik auch meiner Profession - ein sehr bedenkliches Bild der menschlichen Psyche und der etablierten Psychotherapie zeichnen.
So findet man in dem Buch häufig die Formulierung:
»In der Psychologie« …spricht man, …wird bezeichnet, …gibt es den Begriff usw. (z. B. Stahl 2022, S. 43, 44, 51, 61, 115, 141 u.a.). Dies erweckt den Eindruck, als würde anschließend eine faktenbasierte Tatsache beschrieben, oder als sei man sich »in der Psychologie« an diesen Stellen ganz einig, was aber - wie in anderen Wissenschaften auch - häufig nicht der Fall ist.
Beispielsweise schreibt S. Stahl »Dieser Prozess wird in der Psychologie als das gespiegelte Selbstwertempfinden bezeichnet und ist eine Konditionierung, die uns ein Leben lang erhalten bleibt […]«(Stahl 2022, S. 36).
Tatsächlich ist mir dieser Ausdruck - außer bei Stefanie Stahl (und denjenigen, die ihn dann von ihr übernehmen) noch nirgendwo in der Literatur begegnet, also ein gutes Beispiel für das Vermischen von Konzepten, die so vereinfacht werden, dass sie ihren Sinn verlieren. Denn der Begriff des »Spiegelns« in Beziehungen ist in erster Linie durch den Psychoanalytiker Heinz Kohut bekannt geworden als dieser im Rahmen seiner heute sog. Selbstpsychologie sein Konzept des Narzissmus entwickelt hat. (s. z.B. M. Cierpka 2013). Kohuts Metapher vom »Glanz im Auge der Mutter« fand in der Psychoanalyse starke Verbreitung.
Stahl reduziert diesen äußerst komplexen interaktiven Vorgang in einer Beziehung auf eine »Konditionierung«, versucht hier also ein psychoanalytisches Konzept in ein Konzept der Lernpsychologie und der kognitiven Verhaltenstherapie zu pressen, was zu erheblicher Unterkomplexität führt. Die Interaktion zwischen Eltern und Kindern, gar zwischen Eltern und Kleinkindern in der vorsprachlichen Zeit lässt sich nicht auf simple Reiz-Reaktionsschemata reduzieren.
Aus diesen - in dem Buch häufig vorkommenden - nicht belegten Behauptungen lassen sich nach meinem Verständnis jedoch bestimmte Einstellungen und Haltungen erkennen, die ich einerseits häufig falsch, andererseits auch bedenklich finde.
Ich möchte hier nur einmal ein paar Behauptungen auflisten, die Stefanie Stahl als Fakten darstellt, für die sie aber keinerlei Belege angibt:
- »Der Bauplan unserer Psyche richtet sich nach den Interessen der Evolution (Stahl 2022, S. 17).
- »Die Evolution will, dass wir leben« (ebd., S. 21).
- »Unsere psychische Grundstruktur hat eine klare, evolutionäre Architektur, die für alle Menschen über alle Kulturen gleichermaßen gültig ist. Genau wie der menschliche Körper über alle Kulturen denselben Bauplan aufweist« (ebd., S. 21).
- »Menschen, die des Lebens müde sind, haben weniger Probleme mit dem Tod« (ebd., S. 23).
- »Allein, was wir in den ersten zwei Lebensjahren erfahren, kann im Erwachsenenalter nicht mehr gelöscht werden. Während der ersten zwei Lebensjahre bildet sich unser Urvertrauen oder auch Urmisstrauen in uns selbst und in die Welt aus. Diese Prägung ist irreversibel« (ebd., S.35).
Diese Liste ließe sich noch lange fortführen, ich möchte an dieser Stelle zunächst einen Punkt setzen und damit beginnen, diese vollständig unbelegten Behauptungen einmal genauer anzuschauen.
Dazu möchte ich in diesem Blog der ein oder anderen dieser Behauptungen nachgehen und deutlich machen, warum diese zu widerlegen und warum sie bedenklich sind, denn zusammenfassend kommt mir beim Lesen ein Bild entgegen, das den Menschen als programmierten Apparat erscheinen lässt, der - häufig in seiner genetischen Ausstattung oder in der Erfahrung unempathischer Eltern gefangen - lediglich auf Kompensationen eines ansonsten nicht gutzumachenden »Programmierschadens« angewiesen ist.
21. September 2023