Das Interview beginnt mit der Frage der Redakteurin:
Sandra Schulz: »Welche Lehren ziehen Sie bisher aus dem Anschlag von Magdeburg?«
Carsten Linnemann: »Ich ziehe die Lehre daraus, dass Attentäter in Deutschland nicht einfach zu definieren sind. Ich meine, wir haben große Raster angelegt für Rechtsextremisten, für Islamisten, aber offenkundig nicht für psychisch kranke Gewalttäter. Und das ist einfach ein großes Defizit in Deutschland. Wir sehen das bei dem Taleb A. Ich meine, das müssen Sie sich mal vorstellen, er schreibt im Netz, »Polizei ist Verbrecher« »Islamkritiker« ist er, er spricht von einem USB-Stick, er sagt, er will dieses Jahr sterben, also wirklich, ja, psychisch krank.
Und für diese Typen haben wir keine Raster in Deutschland.
Da braucht es einfach einen Austausch der Behörden untereinander, auch der Sicherheitsbehörden mit der Psychiatrie, mit Psychotherapeuten und Vielem mehr, das ist meine Lehre. Es reicht nicht aus eine Liste anzulegen für Rechtsextremisten und Islamisten, sondern in Zukunft sollte das auch für psychisch Kranke gelten«.
Dieses Interview geht anschließend noch weiter, es dreht sich - u.a. - noch um Ausweisungen von Menschen mit Vorstrafen.
Hier an ist aber dieser erste Teil von Interesse. Man weiß gar nicht so recht, wo man anfangen soll.
Man mag in Rechnung stellen, dass sich hier wieder einmal ein Laie mit profundem Nicht-Wissen zum Thema psychischer Erkrankungen äußert. Tatsächlich habe ich dieses Interview am Morgen des 30. Dezember live gehört und habe zunächst gehofft, ich hätte mich verhört. Leider war das nicht der Fall.
Gerne wird an solchen Stellen gesagt, dass man im Eifer eines Interviews vielleicht dieses und jenes zugespitzt sagt, was man so nicht meint. Die Erfahrung lehrt aber eher, dass man gerade im Eifer einer Situation dazu neigt, genau das zu sagen, was man meint und worauf man sonst vielleicht besser aufpasst.
Letztlich und endlich geht vermutlich auch ein Generalsekretär nicht unvorbereitet in ein Interview und die Forderung nach einer Registrierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen wird von ihm mehrfach in verschiedener Form wiederholt, so dass es sicher kein »Ausrutscher« war. Vielleicht war es wieder einmal ein Versuch aus der Reihe: man kann ja mal sehen, wie weit man gehen darf?
Antwort: Carsten Linnemann hat hier - aus meiner Sicht - eindeutig eine beziehungsweise mehrere Grenzen überschritten.
Da wäre zunächst einmal die Grenze des historischen Bewusstseins. Solche Sätze in einem Land, in dem vor gerade mal 85 Jahren Menschen mit psychischen Erkrankungen systematisch ermordet worden sind.
»In den Jahren 1940 und 1941 wurden mehr als 70.000 Menschen mehrheitlich mit geistiger Behinderung oder psychiatrischer Erkrankung in den Anstalten durch Vergiftung mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet«
https://www.gedenkstaetten-bw.de/geschichte-grafeneck.
In der Nachkriegszeit sind diese Morde unter dem Kürzel »Aktion T4« in den Sprachgebrauch eingegangen. »Der Name „Aktion T4“ geht dabei auf den Sitz der eigens gegründeten Planungs- und Lenkungsbehörde in der Tiergartenstraße 4 in Berlin zurück« (ebd.).
Meine Familie hat einen Angehörigen auf diese Weise verloren; er wurde - vermutlich aufgrund einer rezidivierenden depressiven Störung - in Grafeneck ermordet.
Und wie fing es damals an?
»Der Massenmord von Grafeneck war eines der „staatlichen arbeitsteiligen Großverbrechen“ des Nationalsozialismus. Mit einher ging eine „arbeitsteilige Täterschaft“: Hand in Hand arbeiteten eine Vielzahl von Institutionen, Organisationen und Personen auf den Ebenen des Reichs, der Länder und direkt vor Ort in Grafeneck zusammen. Von Berlin aus wurden die Anstalten erfasst. Hierfür wurden in einem ersten Schritt alle Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands angeschrieben (ungefähr 500 Einrichtungen mit 350.000 Patienten und Heimbewohnern). Die Patienten und Heimbewohner wurden mit Hilfe von Fragebögen erfasst, welche wiederum an Gutachter und Obergutachter weitergeleitet wurden. Diese selektierten und bestimmten schließlich die Opfer« (ebd.).
Es fing mit dem an, was Herr Linnemann sich jetzt wünscht: Mit einem »Austausch der Behörden untereinander, auch der Sicherheitsbehörden und der Psychiatrie, mit Psychotherapeuten und Vielem mehr.
Grenzen des Rechtlichen und Ethischen
Was sagt unser Gesetz?
Artikel 1 des Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt
Aber z. B. auch Art. 3, Abs. 3:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Strafgesetzbuch (StGB): §203 Verletzung von Privatgeheimnissen
- Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlußprüfung […] anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Vielleicht besser bekannt als die Ärztliche Schweigepflicht!
Diese Gesetze haben Geltung und sind nicht hoch genug zu achten.
Also hier: die Überschreitung der rechtlichen Grenzen.
Wie gesagt, ich habe das Interview live gehört und hatte schon beim ersten Hören das Gefühl, als würde der Generalsekretär der CDU das Wort »psychisch krank« regelrecht ausspucken. Das war - wohlgemerkt- nur mein Gefühl. »Psychisch krank« schien mir bei Herrn Linnemann vor allem erst einmal all das zu umfassen, was er nicht versteht, was für ihn vielleicht bizarr anmutet und was sich als Reservoir dafür eignen soll, darin all das unterzubringen, was man für fremd, schlecht und böse hält und was ziemlich sicher überhaupt nichts mit einem selbst zu tun hat.
Die drei Begriffe, die Herr Linnemann da aus irgendwelchen Netz-Quellen zitiert, dürften für eine Fachfrau, einen Fachmann jedenfalls nicht für eine Diagnose reichen.
Tatsächlich ergeben sehr viele Einzelheiten, vor allem auch Berichte von Menschen, die mit Taleb A. zusammengearbeitet haben, starke Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung.
Hier ist nur immer zu bedenken, dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Vermutungen retrospektiv äußern.
Dennoch, es spricht sehr viel dafür, dass Taleb A. lange vor seiner entsetzlichen Tat psychisch auffällig war.
Für mich stellt sich jedoch bei dieser Diskussion immer eine Frage:
Ist es überhaupt vorstellbar, dass ein psychisch Gesunder eine solche Tat begeht? Oder anders ausgedrückt: Ist eine solche Tat nicht immer gewissermaßen schon der entsetzliche Ausdruck, das furchtbare Symptom einer psychischen Erkrankung? Was muss man vorher alles in sich getötet haben, um andere Menschen auf diese Weise töten zu können?
Man muss die Empathie in sich getötet haben, jegliche Form des Mitgefühls, des Mitleids, der Realitätskontrolle, des Realitätsempfindens uvm.
Und waren die Ärztinnen und Ärzte, die damals, 1940 an der Ermordung psychisch kranker Menschen beteiligt waren, psychisch gesund? (Für mein Dafürhalten: Nein!)
Womit wir bei der Frage wären, was wir denn unter einer psychischen Erkrankung verstehen.
Es hat sich so sehr eingebürgert, nur noch ICD- oder DSM-Cluster heranzuziehen, weil das so schön übersichtlich erscheint. Aber hinter psychischer Gesundheit und hinter psychischer Krankheit stehen weitaus komplexere Zusammenhänge.
Grenzen der Vernunft
Und dann kommen wir zum letzten Punkt: Wenn wir, was wir alle verhüten mögen!!, dem Plan Linnemanns folgen würden, was wäre dann gewonnen?
Die allermeisten Menschen mit psychischen Erkrankungen dürften eine Person am meisten in Gefahr bringen, und das sind - oft gegen ihren bewussten Willen - sie selbst.
Und sieht dieses Register auch vor, dass psychische Erkrankungen heilbar sind?
Oder dass sie in Phasen ablaufen? Dass es gesunde Phasen gibt, wie bei der Depression und solche der Erkrankung?
In welchem Alter wollen wir mit dem Register beginnen? Sollten wir die Kinder-und Jugendpsychiater mit einbeziehen? Ist nicht die »Enuresis«, das nächtliche Einnässen nicht auch eine - meistens stressbedingte psychische Erkrankung?
Oder das Stottern? Könnte nicht vielleicht von einem heute vierjährigen Kind in 20 Jahren eine Gefahr ausgehen?
Oder wenn jemand durch einen Raubüberfall oder einen sexuellen Übergriff traumatisiert worden ist, also eine psychische Erkrankung hat, sollte sie/er dann auch in dieses Register aufgenommen werden?
Oder wenn jemand eine schwere somatische Erkrankung hat, zum Beispiel eine Krebserkrankung, und in deren Folge zusätzlich depressiv wird - wäre das auch ein Fall für das Register?
Ich möchte die Liste der Absurditäten hier schließen.
Für mich handelt es sich um ein Interview, in dem mal wieder etwas zum Tragen kommt:
Es meint fast jeder, auch jener, der so gar keine Ahnung von diesem Fachgebiet hat, sich dazu äußern zu können.
Und so etwas Unsägliches, Bestürzendes wird dann eben doch gesagt.